Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Allerleirauh“ von Julia Siegmund im Böke-Museum am 5. Oktober 2008

Liebe Julia Siegmund,
liebe Freundinnen und Freunde des Böke-Museums,

ich begrüße Sie herzlich zu unserer 46. Ausstellung, mit der wir unseren Künstlerinnenzyklus, dem wir das Jahr 2008 gewidmet haben, zum Abschluß bringen. Auch mit Julia Siegmund haben wir wieder eine junge Künstlerin für uns gewinnen können, die das Böke-Museum den großen Häusern, wie etwa der Kunsthalle in Emden, vor der Nase weggeschnappt hat. Denn unsere Möglichkeiten und Mittel gestatten uns ja nur, Künstlerinnen und Künstler vorzustellen, die ihren Tigersprung noch vor sich haben, um schon einmal eine Tiermetapher zu benutzen und damit einen ersten Blick auf die Bilder dieser Ausstellung zu wagen.

Ein erster Gesamteindruck: eine elegante, mondäne Ausstellung, die Tiere bleiben haften, sie sind so konkret. Eine andere Künstlerin, hochbegabte Zeichnerin und Dozentin der FREIEN KUNSTSCHULE LEER faßte ihren ersten Eindruck so zusammen: die Bilder seien „sehr spacig“, also räumlich, tief, unbegrenzt. Wenn man den Variantenreichtum der Bearbeitungstechniken der Bildhintergründe mit berücksichtigt, der auf die materielle Dreidimensionalität auch des Tafelbildes verweist, und ihn mit dieser Beobachtung verknüpft, so entstehen auf den großformatigen Tafelbildern und aus der Kombination der einzelnen Komponenten bei den Gruppen oder Zyklen tatsächlich Schwebezustände, Räume, die ohne Horizont sich ins Unendliche auszudehnen scheinen, in denen permanenter Perspektivenwechsel stattfindet, in denen Texte auch seitenverkehrt, in Spiegelschrift, erscheinen, in denen ein Tier auch nur als Kontur, oder nur zur Hälfte durchgestaltet, zur anderen Hälfte skizziert auftritt, was auf den Erschaffungsprozeß der Kunstwerke verweist, aber nicht nur das, es erinnert auch an Verwandlung, Umgestaltung, etwas Fließendes, wie der Raum fließt. Der Weltraum aber, meine Damen und Herren, ist bekanntlich deswegen dunkel, weil er sich ins Unendliche ausdehnt, dem Licht also immer voraus ist, ihm keine Grenzen setzt und es daher nicht reflektieren kann. Die Räume Julia Siegmunds sind hell, pastellfarbig, also ein Gegenbild zum Weltall, das ja zugleich konkret und – seiner Unendlichkeit wegen – unvorstellbar ist. Auf diesen Gegenbildern ist die Welt verzaubert und verhext wie im Märchen. Märchen, das ist das Stichwort für meinen zweiten Interpretationsansatz dieser rätselhaften Ausstellung. Ich versuche, verschiedenen Erklärungssträngen nachzugehen, in der Hoffnung, die Fäden irgendwann miteinander verknüpfen zu können. Ich stelle Vermutungen an.

Märchen also. Ein legitimer Verstehensversuch, denn die Künstlerin hat ihrer Ausstellung den Titel eines Märchens gegeben und dieser Titel steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit einem der ausgestellten Werke. An dieser Stelle muß ich mich noch einmal für den Druckfehler in unserem Jahresflyer entschuldigen. Er wiegt um so schwerer, als Julia Siegmund neben Kunst auch Germanistik studiert hat und mich bereits ein Jahr zuvor auf einen peinlichen Schreibfehler in einem Flyer aufmerksam machen konnte. Natürlich soll das Allerlei im Titel nicht bedeuten, daß da etwas ge- oder ver-liehen wird, sondern bezeichnet ein Vielerlei, ein Vielerlei an Rauhwerk. Nach neuester Rechtschreibung müßte man das Wort „Allerleirauh“ wohl ganz ohne H schreiben, aber wir haben uns auf die traditionelle Schreibweise geeinigt, wie sie auf unserer Einladung erscheint. Das Wort meint „viele Pelze“ und ist der Titel eines bekannten Märchens aus der Sammlung der Gebrüder Grimm und weil die Künstlerin ihn auf ihre Ausstellung übertragen hat, wollen wir dem Märchen ein paar Minuten unserer Aufmerksamkeit widmen.

Eine sterbende Königin verpflichtet ihren Gatten, nach ihrem Tod keine Frau zunehmen, die ihr nicht an Schönheit gleichkäme. Der König entwickelt nun, nach einer Zeit intensiver Suche, bei der keine vergleichbare Frau sich finden ließ, den inzestuösen Wunsch, seine Tochter zu ehelichen. Um dem zu entgehen, stellt die Prinzessin Bedingungen, die sie für unerfüllbar hält. Deren eine ist die Anfertigung eines Mantels „von tausenderlei Pelz und Rauwerk zusammengesetzt“. Doch es gelingt dem König, nicht nur diese kürschnerische Meisterleistung erbringen zu lassen, sondern auch die anderen Bedingungen zu erfüllen, nämlich drei besonders elegante Abendkleider zu beschaffen. Daraufhin bleibt der Tochter nur die Flucht und sie benutzt den Pelzmantel, der offenbar eher kurios als kostbar ist, um sich zu verkleiden, und macht sich Gesicht und Hände mit Ruß schwarz. So verwandelt wird sie allerdings schon am nächsten Tag von den Jägern eines anderen Königs im Wald aufgegriffen und erhält eine aschenputtelähnliche Stellung als Küchenhilfe. Die nutzt sie aus, um bei drei verschiedenen Gelegenheiten ihre Roben zum Hoftanz zu tragen und mit kleinen Preziosen, die sie aus dem königlichen Haushalt ihres Vaters hat mitgehen lassen, so lange auf sich aufmerksam zu machen, bis der König sie enttarnt und ehelicht und damit ihren ursprünglichen gesellschaftlichen Status wiederherstellt. Der Titel des Märchens ist heute der Name von Vereinen, die sich um inzestuös mißbrauchte Mädchen kümmern und das mag auch gut sein, aber es verengt die Deutung. Im Zentrum des Märchens steht nämlich nicht der Inzest, der auch nicht vollzogen wird. Ich sehe den Text mehr als eine Parabel über die Ambivalenz der Schönheit. Sie ist einerseits ein Fluch, denn sie ist so überwältigend, daß sie im Vater das Begehren weckt, sittliche und gesellschaftliche Normen zu verletzen. Sie nötigt die Schöne, sich unkenntlich zu machen. Andererseits gibt es eine Schönheitssucht, die die Schöne selbst ebenso erfaßt wie die sie Betrachtenden und sie treibt, ihre Wünsche zu äußern, sich zu offenbaren. Und nun, meine Damen und Herren, richten wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Bilder. Da sehen wir häufig die Kontur einer weiblichen Figur. Sie ist unkenntlich und sie ist nicht uns, sondern dem Raum zugewandt, der sie umgibt und der sie ausfüllt, wie uns Gedanken und Wünsche umgeben und ausfüllen. Bitte spinnen Sie den Gedanken weiter…

Währenddessen wende ich mich einem zweiten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm zu, aus dem Julia Siegmund auf einem ihrer Schriftbilder zitiert. Es heißt „Jorinde und Joringel“ und ist wesentlich rätselhafter als „Allerleirauh“. Auch hier geht es um verkappte, ja sogar verzauberte Schönheit. Jorinde „war schöner als alle anderen Mädchen“. Sie und ihr Verlobter Joringel werden im Wald von einem unerklärlichen depressiven Anfall erfaßt, der dazu führt, daß Jorinde, obwohl die Gefahr bekannt war, von einer Hexe in eine Nachtigall verwandelt wird, was lebensgefährlich ist, weil die Alte eine fatale Vorliebe für Geflügelbraten hat. Im Zentrum des Märchens steht ein Traum Joringels, der ihm verrät, wie er seine Jorinde erlösen und ihr ihre ursprüngliche Schönheit zurückgeben kann. Er braucht dazu eine blutrote Blume mit einem perlengroßen Tautropfen in der Mitte. Er findet die Pflanze, er gelangt ins Schloß und sieht sich nun mit dem Problem konfrontiert, daß die Hexe Hunderte Jungfrauen in Nachtigallen verwandelt hat und er nicht weiß, welche davon seine Braut ist. Die Zauberin gibt ihm ungewollt einen Hinweis, denn sie versucht, das Objekt seiner Begierde vor ihm in Sicherheit zu bringen und schon ist Joringel am Ziel und ihrer Vereinigung steht nichts mehr im Wege. Von der Tiermetapher war eingangs schon die Rede und wir nähern uns Julia Siegmunds Bildern noch einmal auf andere Weise. Sind diese Tiere, von denen einige uns ja auch nur als Kontur entgegentreten, verzauberte Schönheiten, die darauf warten, daß wir uns ihnen mit einer roten Blume, in deren Mitte ein perlengroßer Tautropfen prangt, nähern?
Bitte spinnen Sie den Gedanken weiter…

Währenddessen greife ich eine andere Figur aus diesem zweiten Märchen auf, um mit ihrer Hilfe einen neuen Deutungsversuch zu unternehmen. Es ist der Traum. Traumdeutungen, meine Damen und Herren, begleiten die Geschichte der Menschheit, sie kommen in allen Kulturen vor. Traumdeuter gehören, wie in gewissem Sinn auch Hexen und Zauberer, zu den Sinnstiftern, Träume sind Götterbotschaften und Weissagungen. In der bildenden Kunst und in der Literatur spielen Träume und Traumdeutungen eine hervorragende Rolle. Mich interessiert hier nicht der esoterische Aspekt, sondern der psychoanalytische Ansatz Siegmund Freuds. Seine im Jahr 1900 veröffentlichte „Traumdeutung“ ist einer der Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie.
Nach Freud finden im Traum psychische Erfüllungen von ins Unbewußte verdrängter Wünsche statt, die selbstverständlich – und wie könnte es auch anders sein – meist sexueller Natur sind. Im Zusammenhang mit Bildinterpretationen interessiert uns aber weniger der Trauminhalt, sondern die Traumgestalt. Freud unterscheidet zwischen manifesten und latenten Träumen. Manifest wird ein Traum dann, wenn wir ihn erzählen, genauer, wenn wir erzählen können, was wir noch in Erinnerung haben. Dabei haben wir durchaus eine Ahnung, daß das nicht der ganze, der tatsächliche Traum ist, den wir geträumt haben und den Freud den latenten Traum nennt. Ein Traum ist sprachlich nicht befriedigend darstellbar, denn er kennt keine Logik, keine Dramaturgie, keine Einheit von Raum, Zeit und Handlung. Freud sagt: „“Die Kausalbeziehung zwischen zwei Gedanken wird entweder ohne Darstellung gelassen oder ersetzt durch das Nacheinander von zwei … Traumstücken. Häufig ist diese Darstellung eine verkehrte, indem der Anfang des Traumes die Folgerung, der Schluß desselben die Voraussetzung bringt. Die direkte Verwandlung eines Dinges …im Traum scheint die Relation von Ursache und Wirkung darzustellen. Die Alternative “ Entweder – Oder“ drückt der Traum niemals aus, sondern nimmt ihre beiden Glieder wie gleichberechtigt … auf. … Das “ nicht “ scheint für den Traum nicht zu existieren.“ Das heißt auch, die Traumbilder kennen keinen festen Horizont, keine Zentralperspektive, keine starre räumliche Begrenzung, in ihnen mischt sich Konkretes mit Abstraktem, Gegenstände mit Farben. Bitte spinnen Sie den Gedanken weiter…

Siegmund Freud war vielleicht mehr noch phantasievoller und sprachbegabter Schriftsteller denn Wissenschaftler. Seine erfindungsreichen Symboldeutungen sind legendär und stehen heute der Weiterentwicklung seiner Theorie eher im Weg. Die verlangt nämlich, um aus dem manifesten Traum in den latenten vorzudringen, die freie Assoziation, die immer subjektiv und individuell ist. „Deutungslexika und Traumsymbolbücher sind also weder sinnvoll noch hilfreich.“ bemerkt die Siegmund-Freud-Gesellschaft dazu milde. Anders ausgedrückt: Träume sind Bilderrätsel, niemals gänzlich zu entschlüsseln, und niemals von zwei Menschen vollständig identisch zu interpretieren. Solche traumhaften Bilderrätsel, in die das träumende Subjekt mit aufgenommen wird, das sind für mich die Bilder von Julia Siegmund. Aber für meine Deutung gilt natürlich auch, was ich eben über die Traumdeutung gesagt habe: sie ist subjektiv und individuell.

Freud hat seiner Traumdeutung ein Vergil-Zitat als Motto vorangestellt: „flectere si nequero superos, Acheronta movebo.“ „Wenn ich die da oben über uns nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt mobilisieren“. So ist die Kunst nicht nur aus der Verehrung der Götter entstanden, sondern sie ist immer auch Bewegung des Abgrunds, der Unterwelt, des Unbewußten und des Subversiven.

Nun kurz noch zu etwas Konkretem, einige Worte zu der Künstlerin: sie ist vor etwas mehr als dreißig Jahren in Friesoythe geboren und lebt in Münster. Sie hat, wie schon erwähnt Kunst und Germanistik in Osnabrück studiert und Staatsexamina abgelegt und eine Meisterklasse der Akademie der bildenden Künste in Wien besucht. Sie hat an einem Gymnasium unterrichtet, ist zweifache Mutter, hat bereits zahlreiche Kunstpreise und Stipendien gewonnen, und verfolgt ihre Karriere als Künstlerin mit Zielstrebigkeit und Energie, was sich auch darin äußert, dass sie von nicht weniger als sechs Galerien vertreten wird und am heutigen Tag allein zwei Ausstellungen eröffnet, nämlich in Friesoythe und Leer. Alle hier ausgestellten Bilder sind verkäuflich, eines wurde heute morgen, merkwürdigerweise in Friesoythe, verkauft, die Preisliste macht in mehreren Exemplaren die Runde.

Ich bedanke mich wieder einmal bei Melanie Meyer, die den Künstlerinnen unseres Frauenjahres eine verständnisvolle und einfühlsame Partnerin war, die wieder ein wundervolles Licht gesetzt hat und für Böke-Museum und Kunstschule eine unersetzliche Mitarbeiterin geworden ist. Besonders am Herzen liegt mir heute, mich bei Judith Böke, meiner – ich sage es immer wieder gerne – Ehefrau zu bedanken, die in den letzten Tagen und Wochen neben ihren Kursen eine kaum noch zu schulternde Arbeitsbelastung durch unsere Theaterwerkstätten, durch unser Fest vor einer Woche und durch diese Ausstellung auf sich genommen hat. Sie trägt häufig die Last, die die Einfälle anderer verursachen und ist doch selbst Künstlerin und Kunstvermittlerin.

Die obligatorische Bitte zum Schluß, meine Damen und Herren, füllen Sie unser kleines Sparschweinchen reichlich, das Böke-Museum ist eine private Einrichtung und erhält keinerlei institutionelle öffentliche Förderung.

Unsere regelmäßigen Gäste wissen, daß ich meine kleine Einführung oft und gern mit einem literarischen Zitat beschließe und heute tue ich das natürlich besonders gern, weil ich weiß, das die Künstlerin Julia Siegmund auch eine Freundin der Sprache und Literatur ist und daher will ich denn auch gleich zwei Texte vortragen, zwischen denen ich mich nicht entscheiden konnte. Wie Sie der Preisliste entnehmen können, tragen die Bilder höchst poetische Titel, die den Märchen, aber auch Gedichten von H.C. Artmann entnommen sind. Über diesen wunderbare Autor sagt sein Kollege Peter Rosei. „Fachmännisch gesprochen, ist Artmann derjenige, der unter den Dichtern deutscher Sprache am besten Bescheid weiß über die Möglichkeiten, die in der Sprache, im Wort selber liegen – eben jene Kräfte, die uns, wie Wittgenstein sagt, beim Gebrauch der Sprache „behexen“. “
Artmann hat eine Reihe von – und ich jubelte bei der Wiederentdeckung – „Traumtexten“ geschrieben und ich will ihnen, mit der Bitte, sich an meine bescheidenen Deutungsversuche zu erinnern, den 50. davon zur Kenntnis geben: „Träumst du dich als bordellbesucher in cape und zylinderhut, das blitzende einglas im aug, den spazierstock unter die achsel geklemmt, und es empfangen dich wunderhübsche skelette in seide und tüll, unbezahlbare mädchen ein jedes,
und man serviert dir ihr einstiges fleisch auf silbernen platten, hier gebratene brüste, da einen zartrosa schenkel und dralle arme und gesottene stückchen vom bauch mit spargel garniert, verschiedenste arten gegrillter popos, kandierter lippen oder leicht überbackener finger, und unter speiseglocken die leckere fülle verbotenster delikatessen – dann rühre die sachen nicht an,
so sehr dich madame auch drängt, nimm deine pistole und schieße nach den gasflammen der fünfzig ampeln im salon, und misse keine von ihnen – so werden sich alle skelette wieder befleischen und die nacht ist für diesmal gerettet. “

Und nun als Gegensatz ein Gedicht des uns vor allem als Komponisten bekannten Peter Cornelius:

An den Traum
Öffne mir die goldne Pforte,
Traum, zu deinem Wunderhain,
Was mir blühte und verdorrte,
Laß mir blühend neu gedeihn.
Zeige mir die heilgen Orte
Meiner Wonne, meiner Pein,
Laß mich lauschen holdem Worte,
Liebesstrahlen saugen ein.
Öffne mir die goldne Pforte,
Traum, o laß mich glücklich sein!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.