Rede zur Eröffnung der Ausstellung „So weit der Himmel blau ist“ am 17.11.2005 im Kunstfoyer am Langenweg, Treuhand Oldenburg

Es ist schon etwas längere Zeit her, dass ich Julia Siegmund kennen lernte. Sie war eine junge, engagierte Studentin am Fachbereich Kunst der Universität Osnabrück. Das ist eine Studienstätte von besonderem Rang, die, so man sie nicht kennt, ihre Qualität aus der Vielfalt und der Intensität künstlerischer Ausbildung bezieht, welche in der Regel angehenden Kunstpädagogen dient, aber eben, wie hier zu sehen, auch auf dem Weg in die freiberufliche künstlerische Betätigung hilfreich sein kann.

Die Ausbildung dort ist außergewöhnlich gründlich in bezug auf die handwerklichen Techniken, hinführend zu einer Freiheit in Anwendung malerischer oder grafischer Mittel zugunsten eigener Ideen, womit der ernste Bereich der Kunst betreten ist. Die Betonung des Handwerklichen, der Verzicht auf die Kopflastigkeit in der Ausbildung und die durch die Überschaubarkeit des Fachbereichs sehr individuelle Förderung erfüllen im besten Sinn den Geist einer Akademie, der nicht regulativ, sondern konstruktiv auch künstlerische Karrieren einleiten und begleiten kann.

Von 1993 bis 1999 studierte Julia Siegmund an jenem Fachbereich. Und als es um die Vergabe des angesehenen Piepenbrock-Förderpreises ging, der alljährlich in Osnabrück für die verschiedenen künstlerischen Ausbildungssparten vergeben wird und den Studenten ein hoher und lukrativer Anreiz ist, fiel Julia Siegmund immer wieder auf. 1995 und 1998 erhielt sie diesen großzügig bemessenen Förderpreis, vor allem für ihre Leistung in der Druckgrafik. Und darauf lege ich eine besondere Betonung, auch im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit ihrer weiteren Entwicklung und die Besonderheiten ihrer künstlerischen Arbeit, die vor uns heute ausgebreitet ist.

Die Grafik ist eine Königsdisziplin der Ausbildung. Sie vereint die solide Grundlage des Zeichnens, dieses ersten künstlerischen Begreifens einer gesehenen Form, mit der Flächenkomposition. Eine Linie gliedert die leere Fläche, die Komposition wird mit grafischen Mitteln in das Format eingeschrieben, eingekratzt, eingeätzt. Hier lernt der ambitionierte Zeichner den Wert und die Würde der Linie, die eben nicht gleichsam von selbst aus der Hand in die Fläche fließt, sondern mühevoll und unter Beachtung der handwerklichen Regeln gefunden und beherrscht werden muss. Denn die Linie ist eine Abstraktion, die in der Natur eigentlich genauso wenig vorkommt wie die leere Fläche. Nach einer solchen Lektion, nach einer Ausbildung in der Druckgrafik, wird kein Zeichner mehr leichtfertig zeichnen wie zuvor.

Ein zweites, was die Grafik auszulösen vermag, ist die Verknüpfung des Bildes mit dem literarischen Wort, etwas, das gemeinhin als Illustration bezeichnet wird und mit Bebilderung literarischer Texte im Grunde zu flach beschrieben ist. Die große Faszination liegt in der Begegnung zweier geistiger Welten, des geschriebenen Wortes auf der einen und des Bildes auf der anderen Seite. Julia Siegmund hat als Studentin u.a. an Künstlerbüchern mitgearbeitet, das sind gebundene grafische Mappenwerke, bei denen sie und ihre Mitstudenten Bilder zu literarischen Texten entwickelt haben, die auf den ersten Blick ganz spontan oder assoziativ erscheinen, wie beiläufig beim Lesen erdacht, die aber nur aus der beherrschten grafischen Technik heraus entstanden sind. Diese Verflechtung, so bin ich überzeugt, hat auf die Entwicklung ihrer Malerei einen ebenso großen Einfluss gehabt wie die Ausdruckskraft der Linie, die ihr die Grafik zugetragen hat. Und wenn wir heute die poesievollen Titel ihrer Bilder lesen, die wie Gedichtzeilen formuliert sind und unbedingt zu den Bildern gehören, so empfinde ich das als einen wohltuenden Nachklang jener damals entwickelten Sensibilität.
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Ihr Programm ist klar, sie spielt auf kleinem wie großem Format mit Harmonien und Gegensätzen von Linie und Fläche, wobei die Linie wie in einer grafischen Technik aus einer farbigen Fläche herausgekratzt wird und tieferliegende Farbschichten freilegt. So kommt ganz behutsam zu der zweiten die dritte Dimension mit ins Bild.

Ein solcher Dialog zwischen Fläche und Raum gehört zum Standardprogramm der Kunst der Moderne, jedes neuzeitliche Werk gründet auf das weitgesteckte Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, das mit dem Spiel einer einzelnen Linie auf der leeren Fläche beginnt. Dieses Spiel, diese Freiheit der künstlerischen Sprache, aber hat immer auch den Anschein einer Beliebigkeit, die eben nahe liegt, wenn man eine Fläche ohne jede Verbindlichkeit so oder eben ganz anders füllen kann. Die Bühne ist leer, der Künstler ist ein Zauberer und baut wirkliche oder unwirkliche Räume in die Fläche hinein. Wir sehen dem Schauspiel zu, geben ihm unsere Hochachtung und unseren Applaus und wissen doch nicht genau, wie das geschieht, was da geschieht. Die Regeln und Gesetze macht der Künstler selbst, so will es die Entwicklung der modernen Kunst. Das aber bedeutet keineswegs, dass jeder Künstler als Souverän sein eigenes Reich nach Willkür, sprich: Herzenslust, bestellt. Das wäre nicht künstlerische Freiheit, sondern Anarchie. Das Wesentliche ist die einem Werk innewohnende Kraft. Ich meine, jene aus der dargelegten handwerklichen Kenntnis kommende Klarheit und Entschiedenheit eines Bildaufbaus oder des Einsatzes einer bestimmten Farbe an einer bestimmten Stelle.

Ein Gemälde ist wie ein lebender Organismus, kein Teil ist darin entbehrlich, ohne die Gesamtheit zu stören. Und so beliebig ein Werk auch auf den ersten Blick erscheinen mag, auf den zweiten Blick erkennt man genau die organische Struktur, die Ausgewogenheit der einzelnen Elemente, die ganz behutsamen Dialoge zwischen Farbe und Form. Am leichtesten ist die Stimmigkeit zu entdecken, wenn man sich ein Element aus dem Bild wegdenkt. Ein gutes Bild muss dann disharmonisch erscheinen, wie ein Gerüst ohne tragenden Pfeiler in sich zusammenstürzen.
Das unterscheidet gute und schlechte Kunst, unterscheidet ein Werk von einem Bild. Und dabei ist es wirklich egal, ob ein realer Gegenstand im Gemälde erkennbar ist oder nicht: Form und Farbe ist es allemal, was wir vor uns haben, und unsere Augen können übrigens wunderbar abstrakt sehen und sehen lernen.
Ich habe das alles für Julia Siegmund und über ihr Werk gesagt. An biographischem nur dieses noch: sie ist jung, sie ist begabt, sie ist in Friesoythe geboren und aufgewachsen und jetzt in Münster ansässig. H.C. Artmann ist ihr Lieblingsdichter (…). Sie lehrt uns in schönen Farben und behutsamen Zeichnungen auf einer bemalten Fläche etwas über die Gestalt dieser Welt erkennen. Die Melodien ihrer Werke ändern sich kontinuierlich, sozusagen ihre Tonart, ihre Klangfarbe. Die Bilder selbst bleiben sensible Kompositionen von großer innerer Spannung und einem hohen Grad an poetischer Verzauberung, der sie zuweilen Traumbildern ähnlich macht. Manchem werden sich diese feinsinnigen Gemälde erst auf den zweiten Blick in ihrer inneren Stabilität und Harmonie öffnen, und dahin führt mancher Titel mit einem Augenzwinkern: „Wenn ihr es gerne so haben wollt“ mit einem ironischen Hinweis darauf, dass ein Sofa unter dieses Bild gehört. Ja, so wollen wir es haben, eine behutsam vorgetragene Malerei von großer Schönheit und innerer Tiefe, Ausdruck einer mutigen künstlerischen Energie, die sich auf eine ganz persönliche Weise auf die nicht enden wollende Suche nach dem Wesentlichen in der bildenden Kunst begeben hat.

Ich komme nicht umhin, in diesem Zusammenhang Paul Klee zu zitieren, der das Wesen der Kunst in den Ursprung der Schöpfung verlegt und dabei wunderbare Gleichnisse für künstlerisches Handeln gefunden hat. Der Künstler, sagt er, überschätzt oder missachtet die Wirklichkeit nicht, sondern schaut konzentriert und tief in sie hinein. „Je tiefer er schaut, desto mehr prägt sich ihm an der Stelle eines fertigen Naturbildes das allein wesentliche Bild der Schöpfung als Genesis ein…Er sagt sich: es sah diese Welt anders aus und es wird diese Welt anders aussehen. Auf anderen Sternen kann es wieder zu ganz anderen Formen gekommen sein. Solche Beweglichkeit auf den natürlichen Schöpfungswegen ist eine gute Formungsschule.“

Eine solche Begründung der Abstraktion in der bildenden Kunst hat heute noch unverminderte Aussagekraft und trifft wie dafür bestimmt auf das Werk von Julia Siegmund zu: hier geht es nicht um Reproduktion von Wirklichkeit, nicht um Vorstellung einer imaginären Welt, nicht einmal um die Veranschaulichung von Naturgesetzen. Hier geht es vielmehr – so einfach und so unerhört schwierig – um die Formwerdung selbst, um jene Prozesse, die im tiefsten Innern die Natur mit der Kunst verbinden, ja letztlich deren Wesen bestimmen. Aber alle Bildfindungen, die Julia Siegmund in ihrem kreativen Leben unternommen hat und noch unternehmen wird, sind keine Ergebnisse solcher Prozesse, sondern Zwischenprotokolle, sozusagen Beschreibungen jener von Klee benannten Genesis, die weder Anfang noch Ende kennt. Und wir sind glücklich und dankbar, an diesem Geschehnis als Augenzeugen ein wenig teilhaben zu können.

Dr. Bernd Küster

Direktor des Landesmuseums für Kunst- und Kulturgeschichte, Oldenburg