Gern mache ich ein paar Anmerkungen zu dieser Ausstellung von Julia Siegmund. Ich habe ihr künstlerisches Arbeiten über die vergangenen Jahre verfolgen können und ich finde sehr spannend, welchen Weg sie geht, wie sie in ihren Bildern die Gewichte deutlich von einer abstrakten Handschrift hin zur Gegenständlichkeit verschiebt. Auch, wie man in ihren Arbeiten die Neugier auf immer neue handwerkliche Möglichkeiten spürt. Sie malt großformatig angelegte Bilder, sie zeichnet in freiem Duktus Miniaturen auf Papier. Sie studiert, was mit einer Figur passiert, die in Aufsicht an den Bildrand geschoben wird, die sich im leeren Raum behaupten muss, als Figur im Nichts, und welche Seh-Erfahrung das für uns Betrachter bedeutet. Wir sehen Radierungen, Monotypien, Drucke mit ungewohnten Materialien wie Tetrapack-Folie, mit der spezielle Strukturen in der Bildfläche erzeugt werden können. Ihre Arbeiten halten auf unterschiedliche Weise eine Schwebelage zwischen Außen und Innen, zwischen Beredsamkeit und Schweigen, Alltagslogik und Poesie.

Aber wie geht das im Einzelnen zu: Beginnen wir mit einem Detail, mit der Wandzeichnung, die wir alle im Eingangsbereich gesehen haben. Ein Mann sitzt, mit dem Rücken zu uns, eine Hand aufgestützt, und sieht suchend in den imaginären Raum. Die weiße Wand ist die Projektionsfläche, auf die wir Betrachter mit ihm blicken. Ein Naturfreund könnte das sein, einer, der entspannt die Gegend ansieht, Aber auch ein Einsamer, oder einer, der endlich die Welt frei in den Blick nehmen möchte. Drei Worte sind zu der kleinen Skizze gesetzt, wie ein Graffiti: „anderswo ist hier“. Ein schönes Spiel mit der Plakatidee, denn so lautet ja der Titel der Ausstellung. Aber wie bezieht sich das auf den Sitzenden? Ausweichen, Weglaufen hilft nichts, anderswo ist es nicht anders? Wir sind selbst die Alternative. Mir das Hier und Jetzt gilt.

Wir werden als Betrachter in einen freien poetischen Raum geführt, und wir kommen ins Reflektieren, Denken, Deuten. Damit hat uns Julia Siegmund eingestimmt auf ihr künstlerisches Programm. Sie arbeitet, salopp gesagt, mit einem Medienmix. Zeichnung, Malerei und Wort werden von ihr zu einem integralen Ganzen gefügt. Text und Bild, könnte man meinen, stehen eigentlich im Konflikt oder in Konkurrenz miteinander. Sie existieren unabhängig und eröffnen ja ihre jeweils eigenen Bedeutungshorizonte. Der künstlerische Ansatz aber besteht aber genau darin, zu erforschen, wie diese künstlerischen Ausdrucksformen aufeinander und miteinander reagieren und wie dabei Neues entsteht.

Ähnlich im Ansatz könnte man vielleicht auch ihr Prinzip der Wandinstallationen einordnen. Eine Serie thematisch unterschiedlicher, eigenständiger Arbeiten im kleinen Format wird so zusammengefügt, dass die Motive miteinander korrespondieren können. Der Betrachter schafft seine jeweils eigene Abfolge und Synopse, wenn er die Bildserien mit seinen Blicken durchwandert.

Sie sei, hat mir Julia im Gespräch gesagt, ein analytischer Typ. Sie gehe auch mit Sprache analytisch um. Und genau deshalb habe sie immer Sehnsucht nach einer Alternative. Sie habe sehr früh den Wunsch gehabt, Wort und Bild, Poesie und bildnerische Ausdrucksmittel zu verbinden. Das hat nichts mit Illustration zu tun. Sie produziert nicht zu Geschichten, Gedichten und poetisch verdichteten Sätzen die passenden Bilder. Der Prozess ist viel weniger direkt, sagt die Künstlerin: Die Wörter und Sätze lösen eine Stimmung in ihr aus. Eine Art poetischer Stimmung. Und aus dieser Stimmung heraus entstehen dann Bildideen, Bilder.

In vielen Werkgruppen hat sich Julia auf die Lyrik des genialen österreichischen Lyrikers H.C. Artmann bezogen. Zunehmend arbeitet sie auch mit eigenen lyrischen Aussagen. „Ich will mir ein Kleid aus dem Glanz der guten Tage schneiden“ ist ein Beispiel – man findet es in einem der wunderbaren Künstlerbücher, die derzeit in der Zusammenarbeit mit einem Künstlerkollegen entstehen.

Wörter, Geschriebenes, Textfragmente tauchen in den Bildern als direkte gestalterische Elemente auf. Im Leerraum zwischen Bildmotiven – wir sehen es besonders gut bei den großformatigen Arbeiten – werden sie zur kompositorischen Notwendigkeit, beginnen ein Eigenleben, verrätseln die Bildaussage. Sie legen Spuren, täuschen ein Vorne und Hinten vor, allemal wenn sie in Spiegelschrift notiert sind. Hier und da lässt die Künstlerin Worte wie ein Echo aus dem Bildgrund kommen, oder sie verwebt Buchstaben, Textfragmente zu einem schier turbulenten Hintergrund, der die Figuren im Bild nicht unbeeinflusst lassen kann.

Wenn man ihre künstlerische Handschrift beschreiben will, muss man aber ebenso von der Linie reden, von der Souveränität, mit der die Künstlerin sie einsetzt, spontan, entschieden, aber ohne Geschwätzigkeit. Sie gräbt Linien auch mal in harte hölzerne Bildträger und bearbeitet sie mit Radierfarbe, als wollte sie einen Druckvorgang vorbereiten. Und sie zieht sie immer wieder als brillanten Strich direkt aus der Tube auf die Fläche. Die Linie sei für sie die vertrauteste Form, sich künstlerisch auszudrücken, sagt sie. Das hat mit ihrer Ausbildung zu tun, in der Zeichnung und Druckgrafik im Mittelpunkt standen. 1995 schon hat sie den Piepenbrock-Förderpreis für Druckgrafik bekommen. Mit Malerei befasste sie sich dann erst später.

Die Bildmotive, die sie mit ihrer stark grafisch ausgerichteten Handschrift bearbeitet, wirken auf uns meist unprätentiös, einfach, verständlich. Auf den ersten Blick. Notate aus dem Alltag scheinen es zu sein. Da tauchen Arbeitshandschuhe auf, ein paar Hände, eine Kinderfigur im Anschnitt. Ein Frauengesicht mit drastisch verschlossenem Mund. Oder – wie ein Filmstill aus einer dramatischen Geschichte entnommen – der Kopf einer Frau, die die Hände vors Gesicht schlägt. Ist sie verzweifelt, weint sie? Vielleicht wäscht sie sich ja auch nur. Auch wenn ein kapriziös hocherhobener Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger auftaucht, an dem ein feuerrotes Seil hängt, haben wir die Ahnung, dass einem der Alltag ganz schön doppelbödig begegnen kann.

Ruhende Akteure, Schlafende, die sich eine Auszeit vom Trubel des Alltags nehmen, werden immer wieder thematisiert. „Silence“ lesen wir tatsächlich ein paar Mal wortwörtlich als Bild-Botschaft. Ruhe – was für ein Ausruf, Befehl, Sehnsuchtsseufzer? Stillschweigen als Ausdruck von Resignation, oder ganz anders als Ziel? Als Alternative für die ermüdete Leistungsgesellschaft, über die unsere Feuilletons gern diskutieren.

Man könnte die Kinderfiguren dem Themenkreis zuordnen. Julia Siegmund stellt immer wieder dar, wie Kinder selbstvergessen konzentriert sein können, ganz bei sich. Eine Geste, ein Detail genügt ihr oft für eine bildfüllende Zeichnung – die Hände oder ein paar tapsige Kinderfüße als pars pro toto. All das kann freilich unter unserem Blick auch leicht zu vibrieren beginnen. Nehmen wir noch einmal die Kinderfüßchen. Anrührend, sich die kleine Gestalt als ganze zu imaginieren. Übt sie schon, mit beiden Beinen im Leben zu stehen? Aber gibt es da nicht das bitterböse Wort, es stammt von Kleist: „Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße“? Wird hier schon nach vorne gesehen, auf ein Leben, das auch Tücke und Steine des Anstoßes bereithält?

Nicht anders ergeht es mir bei dem großen Format mit einem einladenden Sofa, davor ein hockendes Kind. „Wir sind gegen gute Wunder nie abgeneigt“ steht leicht ironisch quer über das Möbelstück notiert, in Spiegelschrift. Die Künstlerin hat ihm einen unruhigen Hintergrund gegeben, Rot leuchtet darin auf. Kann man sich vor allem einfach wegducken, wenn man auf dem Sofa sitzt? Das breite Sitzmöbel als Symbol für bürgerliche Behaglichkeit könnte auf das Thema kulturelle Zurichtung und Eingrenzung hinweisen . Die Figur des Kindes ist im Vordergrund im Umriss mit leuchtender Lackfarbe skizziert, ein Schemen nur, überhöht im Maßstab. Es scheint nicht zugehörig, noch nicht zugerichtet, um bei der Formulierung zu bleiben. Die dicke Kontur scheint es vom Bildraum ein wenig abzuheben, suggeriert, dass die Figur eher der Betrachter-Ebene zugehört. Solche Mehrdeutigkeiten beherrscht Julia Siegmund und spielt mit ihnen meisterlich.

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass sie sich bei manchen Motiven auf Gratwanderungen begibt. Wenn es um Tiere geht, zum Beispiel um den Hirsch. Ein majestätisches Tier – wir kennen das Bild von der Einladungskarte – steht da im rechten Bildwinkel, den Blick zur Seite gerichtet. Frontal auf uns zu kommt ein anderes Tier, reh-ähnlich. Und da ist noch der einsam sitzende Mann in Rückenansicht im Hintergrund, wir kennen ihn schon. Der kapitale Hirsch hat, wir wissen es, eine schwere Portion Häme und Ironie als Last zu tragen. Er wird verachtet in der Malerei als Repräsentant der Kitschgeschichte. Und er hat ja auch anderweitig Schweres erlebt. Die Jagdgöttin Artemis, sagt uns zum Beispiel die antike Mythologie, verwandelte einst den frivolen Aktaion, der sie beim Bad beobachtet hat, in einen Hirsch, der dann von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde.

Die Künstlerin erzählt uns auch in diesem Bild nichts Genaueres. Sie lässt ihre Bildkonzeption wie stets so offen, dass wir sie besetzen können, mit unserer Weltsicht, mit Einfällen, Erinnerungen. Ein offenes Beziehungsgeflecht aus Stimmungen, Eindrücken oder Gedanken entsteht beim Betrachten ihrer Bilder. Dabei leitet sie uns, auch in diesem Fall, mit einem poetischen Fingerzeig „Der Wald kommt dir entgegen“, der in seiner Doppelsinnigkeit fast politischen, einen umweltpolitischen Charakter hat.

Ich komme zum Schluss und möchte mich auf einen der großen Kunstkenner unserer Zeit berufen. Jean Christoph Amman hat einmal in einem Interview (mit der NZZ) schier apodiktisch gesagt: „Ich will Kunst als Poesie… Kunst ist Poesie.“ Dazu scheint mir als Ergänzung wunderbar die Definition des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt zu passen, ich zitiere wieder: „Die Poesie hat ihre Höhepunkte, wenn sie dem Menschen Geheimnisse offenbart, die in ihm liegen und von welchen er ohne sie nur ein dumpfes Gefühl hätte.“

In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir in der Ausstellung viel Ungesagtes entdecken und auch ein paar Geheimnisse, die in uns liegen.