Julia Siegmund. Silence
Kaponier Vechta. 24. Februar 2012

Julia Siegmund hat zwei Kinder. Sie sind sechs und acht Jahre alt und treten hier und da in den Bildern der Malerin auf. Als sie vier, fünf Jahre alt waren, schaute die Künstlerin die beiden besonders fasziniert an, fotografierte, malte, zeichnete sie. In diesem Alter besitzen Kinder eine unvergleichliche Ausstrahlung: Sie erscheinen vollkommen konzentriert, versammelt, ganz in sich ruhend und doch der Welt auf eine selbstverständliche und selbstbewusste Weise zugewandt. „Stille Zuständigkeit“ hat der Maler Karl Hofer die Erscheinung seiner Menschenbilder genannt. Eine ähnliche Ausstrahlung besitzen auch die reduzierten Körperdarstellungen Julia Siegmunds.

„Der Tag bestand aus Einzelheiten“ ist eine Serie von Hochdrucken betitelt. Zu sehen sind Körperkonturen, Gesten, angehaltene Bewegungen: Füße, Hände, hinter dem Kopf verschränkte Arme, ein Kopf und ein kauernder Körper in der Rückenansicht. Eindrücke, die jeder Tag bringt, visuelle Erlebnisse, denen wir in der Regel kaum Beachtung schenken. Und doch zeigt sich gerade in diesen Details und Ausschnitten, im vermeintlich Alltäglichen und Beiläufigen das Wunder des menschlichen Daseins. Die Künstlerin widmet dem Flüchtigen ihre ganze Aufmerksamkeit und befördert es mit tiefer Empathie und schöner Schlichtheit zu kleinen, aber intensiven Ereignissen.

„Silence“ lautet der Titel dieser Ausstellung, der erste Eindruck belegt, warum. Julia Siegmunds Arbeiten sind stille Bilder, und Bilder, die Momente der Ruhe zum Thema machen. Manchmal ist die Ruhe auch ein Zustand der Erschöpfung, manchmal ist sie ein Kontrapunkt zu einer lärmenden, von Reizen überquellenden Welt.

Mit Julia Siegmunds „Schwimmern“ – nur wenige Striche setzen Gestalt, Situation und Atmosphäre – tauchen wir ein in eine Unterwelt der Geräuschlosigkeit, der schwebenden Bewegungen, der Begegnung mit uns selbst. Alles ist leicht, licht und transparent und dennoch spüren wir mit diesen abstrakten und dabei so präsenten Körpern die Begegnung mit den Elementen, mit etwas Elementarem. Unter schillernden Oberflächen öffnet sich ein imaginärer Raum. Die Figuren liegen in Umrissen ganz auf der Fläche und lassen uns doch eine unbestimmte soghafte Tiefe empfinden.

Neben Menschenbildern zählen Tiere zum bevorzugten Motivrepertoire der Künstlerin. Sie sind meist aus einem konkreten Kontext herausgeschnitten und in einen Bildzusammenhang aus reiner Farbe und freien Linien gesetzt. Man sieht und spürt aber doch, dass sie einer erzählerischen Welt entstammen, der Welt der Fabeln und Märchen, in denen sie sinnbildlich und zeichenhaft auftreten. Da ist der Hase, oder besser das Kaninchen, das permanent rennt, auf der Flucht ist, seine Haken schlägt. Oder der Rabe, der ruhende, sinnierende Repräsentant der Klugheit und Weisheit im Vogelreich.
Ihre Ausstrahlung gewinnen sie durch ihre Gestalt. Auch wenn Julia Siegmund Motive und Themen aus der Märchenwelt schöpft, nicht zuletzt weil sie das Wunderliche, Wunderbare dieser erzählerischen Welterschließung und -erklärung weitergeben will, ist es letztlich die Form, der ihr besonderes Interesse gilt. Auch wenn das Motiv oder das Thema den ersten Impuls geben, entscheiden letztlich formale Erwägungen darüber, wie eine Figur im Bild steht.

Julia Siegmund beherrscht die malerische Abstraktion auf eine besondere Weise. Sie führt das Bildgeschehen mit reduzierter Linie und allein der Farbwirkung verpflichteten Flächen auf das Wesentliche zurück. In dieser puren Klarheit tritt weder die Linie noch die Fläche in der Natur auf und dennoch schließen wir bei der Betrachtung der Bilder sofort an Natur- wie auch an menschliche Erscheinungen an. Auch wenn wir lediglich schwimmende Linien, Tropfen, Blasen, amorphe dunkle Schatten sehen.

Die Serie „Stille, Schatten, Striche“, aus der Sie hier auch Beispiele sehen, ist aus der Zusammenarbeit Julia Siegmunds mit einer Kollegin hervorgegangen, die Scherenschnitte fertigt. Hände und Füße sind buchstäblich herausgeschnitten, Gesten isoliert und nicht zuletzt deshalb mehrdeutig. Was bedeuten die vors Gesicht gehaltenen Hände: Schauen wir auf jemanden, der sich wäscht oder der die Augen verschließt, beobachten wir eine Pose des Entsetzens? Aus der Nähe zum Scherenschnitt scheint der Strich noch knapper geworden zu sein, noch mehr auf die reine Kontur reduziert. Die Umrisslinie wirkt jedoch nie hart, besitzt eine organische Präsenz und eine sanfte Geschmeidigkeit.

Linie, Fläche und Raum treten hier wie musikalische Elemente auf: wie Melodie, Akkord und Klang und lassen dabei in ihrer eigenen Sprache immer neue Bilder entstehen. Hinzu kommt häufig das Wort, nicht nur in den poetischen Titeln, sondern auch als Bildelement selbst, wo es eine grafische, bisweilen fast ornamentale Rolle einnimmt.

Die Poesie spielt wie das Märchen eine besondere Rolle im Werk von Julia Siegmund. Ein Dichter steht dabei im Zentrum: H.C. Artmann, der österreichische Virtuose der naturnahen, träumerischen, fabelreichen Sprachmagie. Gedichte Artmanns beeinflussen Titel und Bilder der Künstlerin, ohne dass Texte illustriert würden. Es ist eher die Atmosphäre der Lyrik, die in den Bildern einen eigenen Widerhall findet.

Aus den Gedichten wie auch aus den Märchen nimmt die Malerin in ihren Bildern das unterschwellig Wunderbare und das Verwundern selbst mit. Etwas unverstellt Kindliches, unbeirrt Verträumtes, etwas Sehnsüchtiges, das zu bewahren ist, um jenen sinnlichen Zugang zur Welt nicht zu verschließen, durch den allein wir ganz unseren Ort darin finden.

In der Bild-Serie „Schnurspringen“ greift Julia Siegmund ein Kinderspiel auf, das heute vielleicht schon historisch geworden ist. Die Bewegung besitzt Leichtigkeit und bei aller Vitalität die Stille einer spielerischen Selbstvergessenheit. Wir spüren geradezu den Rhythmus, das Sich-finden und Sich-Treiben lassen, das Abheben und Aufsetzen im Gleichmaß. Eine innere Taktung liegt über dem meditativ wirkenden Bildraum. In einem Bild dieser Serie sehen wir als Kontrapunkt die gebückte, geschaffte Hausfrau mit Gummihandschuhen, eine Figur mit gewissen autobiographischen Zügen, die uns noch an anderer Stelle begegnet.

„Wir sind gegen gute Wunder nie abgeneigt“ lautet der Titel einer weiteren Serie.
Ein Sofa thront hier zentral und mächtig. Ein Rückzugsort, ein Möbel des Innehaltens, Ausruhens, ein Ort zu, Lesen und Träumen. Die Silhouette eines Kindes liegt darüber: eine andere Bildschicht, eine andere Bildsprache. Die Verknüpfung nehmen wir vor. Wir können das Kind in seiner hockenden, aufmerksamen Haltung, ganz in sich ruhend und ganz offen für ein Gegenüber, auf dieses Sofa setzen und ihm von Wundern erzählen. Oder wir können uns vom Erstaunen des Kindes bezaubern lassen.

„Sag nicht, ich hätte zu träumen versäumt.“ Titel einer weiteren Bildserie.
Ein Mädchen kniet. Es könnte etwas gefunden haben. Es könnte etwas beobachten, auf dem Boden vielleicht, vielleicht schaut es auf eine Wasseroberfläche. Der kleine Ausschnitt einer Gitterstruktur hinter ihr könnte Äste zeigen, also ein Naturambiente. Neben ihr könnten Blätter liegen, oder Wassertropfen oder Fische, was die These vom Blick ins Wasser stützen würde.

Julia Siegmund lässt den Betrachter über den genauen Ort ihren Szenen wie auch über die Haltung und Empfindungen ihrer Protagonisten häufig im Unklaren.
Das dürfte nicht zuletzt mit dem Werkprozess, mit der Entstehung ihrer Malerei zusammenhängen.

Jedes Bild besitzt einen komplett schwarzen Untergrund. Darauf liegt eine weiße Fläche, in die die Künstlerin, noch während die Farbe nass ist, hinein kratzt. Diese grafischen Momente müssen aus dem Hintergrund herausgeschält werden, damit sie die gewünschte Wirkung an der Oberfläche erzielen. Die Linien sind schnell, spontan, spielerisch aufgebracht. Die Malerin versucht damit, ihre Vernunft zu überlisten. Früher plante sie ihre Bilder. Sie waren meist im Kopf schon fertig, das Ergebnis sah aber häufig anders aus, weil das Bild einen eigenen Willen hat, eine Eigendynamik besitzt, weil die Komposition nach eigenen Gesetzen funktioniert.

Auf die freien grafischen, herausgekratzten Striche wird dann Farbe aufgetragen, gleichfalls rasch und spontan. Dann erst fällt die Entscheidung für eine bestimmte Stelle, aus der sich ein Bild aufbauen lässt, und für eine bestimmte Farbe. Andere Partien werden übermalt, was zum Teil nicht leicht fällt, weil auch dort bereits Spannendes entstanden ist. Aber diese Stellen scheinen ja noch durch. Erst dann wird die Figur gesetzt, sie richtet sich also ganz nach den vorausgegangenen Entwicklungen und Entscheidungen.

In ihren Installationen verlässt Julia Siegmund die traditionellen Bildträger, erweitert die Zeichnung in den Ausstellungsraum und lässt sie auf unterschiedliche Weise mit Objekten und Bildern korrespondieren. Eine Arbeit zeigt eher das Gegenbild zur Stille beziehungsweise eine prekäre Ruhe: Wir sehen die Hausfrau im Multitasking.
Allseits gefragt, beschäftigt und mächtig geschafft. Sie ist noch nicht wirklich angezogen, die Haare sind aufgesteckt. Sie schuftet, arbeitet eine Baustelle nach der anderen ab, und dann sagt jemand – oder vielleicht denkt sie es selbst: „…bei euch könnten auch mal wieder die Fenster geputzt werden!“

Bei aller Neigung zur Poesie ist der Künstlerin die profane Wirklichkeit als eigene Erfahrung und Bildthema durchaus nicht fremd. Die Herausforderungen und Überforderungen, die kleinen und großen Bedrängnisse, Ketten, Lasten und Pflichten des Alltags, auch das findet sich in ihren Arbeiten.

Zum Beispiel in der Installation „Offline“. Ein Mensch lehnt entspannt an der Wand, vor ihm liegt ein Berg Kabel. Abgeschnitten vom oder auf dem Rückweg zum Datenverkehr. Jeder von uns mag selbst beurteilen, ob dieser Zeitgenosse zu beneiden oder zu bemitleiden ist. Ihm gegenüber sind Leuchtkästen angebracht. Pflanzenmotive und die Adresse einer Software samt Anleitung zum Download, mit der man den Internetzugang sperren kann. Macfreedom.com. Wer heute von Freiheit spricht, muss über sein Verhältnis zur Dauerverfügbarkeit, zum omnipräsenten Datenfluss, muss über den Grad seiner Selbstbestimmtheit nachdenken. Grundbedingung zur Kreativität und Bildung ist Muße. Die Verkabelung mit dem Netz könnte Marionetten aus uns machen.

Zum Abschluss einige Bemerkungen zu einer Ko-Produktion Julia Siegmund/H.C. Artmann: „Ich will mir ein Kleid aus dem Glanz der guten Tage schneiden“.
Eine Frau, die nach unten schaut. Man weiß nicht genau, wie man die Pose deuten soll: Sucht sie etwas, hält sie inne, lastet etwas auf ihr, ist sie erschöpft? Ihr gegenüber liegt eine blaue Folie, unter der ein Licht zu sehen ist. Das Licht, das die Körpersilhouette anstrahlt, und das Licht unter der Folie korrespondieren miteinander. Teilweise strahlt das Licht die Frau an.

Das Material, das Julia Siegmund hier verwendet, ist buchstäblich schillernd. Es korrespondiert mit dem Wort Glanz, ist verwandt mit den Wasseroberflächen, die in den Bildern der Malerin häufig als Projektionsflächen, als Schnittstellen für eine magische, zauberische, untergründige Welt auftreten, eine Welt. die es zu erkunden oder zu bewahren gilt. Es ist aber auch ein kühles Material, das verhindert, dass sich allzu große Kuscheligkeit und Gemütlichkeit einschleicht. Die dem Plastik innewohnende Künstlichkeit verleiht der Installation eine starke imaginative Kraft. Das Kleid, das hier geschnitten werden soll, ist ein mentales, eine gedankliches, emotionales, spirituelles, eines aus Erinnerung. Licht und Stoff sind Sinnbilder für eine bewahrende und schützende zweite Haut. Bei allem Sinn für Wunder und Sehnsucht verliert Julia Siegmund nie den Bezug zur rauen Realität.

Der österreichische Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler Wieland Schmied hat das Leben H.C. Artmanns mal einen „poetischen Akt“ genannt. „Die ,Mystifikation‘ war in diesem Zusammenhang eine der Möglichkeiten, banales Leben zu verwandeln, d.h. durchsichtig, transparent, geschichtlich, poetisch, dichter zu machen, es mit Sinn aufzuladen…“. Diese Attribute und die Vorstellung von der Metamorphose des Alltags in eine verdichtete und doch lichte Poesie lassen sich auch auf die Bildwelt Julia Siegmunds beziehen.

Rainer Beßling