am Sonntag, dem 07. Dezember 2003 im Rathaus am Stadtpark,
Friesoythe
Sehr verehrter Herr Bürgermeister Wimberg, meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Volkmar Grigull, liebe Julia Siegmund!
Es ist ein besonderes Ereignis, wenn eine noch junge, viel versprechende und bereits außerordentlich erfolgreiche Künstlerin in ihrer Heimatstadt ausstellen kann. Julia Siegmund ist für mich ohne Zweifel eine der bemerkenswertesten Künstlerinnen im Oldenburger Land. Ich lernte ihre Arbeiten vor knapp drei Jahren in der schönen Galerie Lindern kennen, und ich war überwältigt von der Stringenz und der Eigenständigkeit ihrer Malerei, Zeichnung und Grafik. Am Ende dieser Ausstellung, die sehr erfolgreich gewesen ist, hatte die Galerie fast alle Exponate verkauft. Ein Großteil ihres Oeuvres fand Liebhaber und für Julia Siegmund bedeutete dies die Aufgabe, die entstandenen Lücken zu füllen. Es ist selten, dass Kunst den Menschen so unmittelbar anspricht, wie dies bei den Arbeiten von Julia Siegmund der Fall ist. Man muss kein Kunstkenner sein, um zu bemerken, dass man es hier mit authentischer Kunst zu tun hat, die sich eben nicht in irgendeinen Trend einfügen will, sondern vielmehr völlig eigenständig und unverwechselbar ist. Das Lyrische und somit auch das zutiefst Humane ist Teil ihrer künstlerischen Botschaft. Und es ist ausgesprochen berührend, wie sehr die Form und die Komposition zu einer Einheit verschmelzen und diese Verbindung wiederum Inhalt und Form in ein fast zeichenhaftes Gleichgewicht bringt. Die Ausstellung hier im Rathaus am Stadtpark bietet einen Überblick über eine Entwicklung, die sechs Jahre umfasst. Es ist eine besonders schöne Ausstellung, die die Räume auf ganz wunderbare Weise akzentuiert. Es wirkt fast so, als seien die Bilder immer dort gewesen und man kann sich kaum vorstellen, dass man es mit einer temporär begrenzten Ausstellung zu tun hat, die am 07. März endet. Es wäre wünschenswert, wenn wenigstens eine Werkgruppe hier in Friesoythe bliebe, denn ihr Werk hat hier seinen Anfang gefunden. Im Arbeitsbereich der Oldenburgischen Landschaft, also dem Gebiet zwischen den Dammer Bergen und der Insel Wangerooge steht Julia Siegmund mit ihrer Kunst an vorderster Stelle. Ihre konsequente Arbeit und, wie ich finde, ein bereits ausgeprägter Personalstil zeugen von Reife. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Julia Siegmund auch in der bundesdeutschen Kunstszene und vielleicht sogar darüber hinaus Anerkennung finden wird.
Julia Siegmund wurde 1974 in Friesoythe geboren. Sie studierte in Osnabrück und hat kürzlich ihre Lehrerausbildung beendet, sich jedoch nicht für die Lehrerlaufbahn, sondern für die Freie Kunst entschieden. 1997 hatte sie die seltene Gelegenheit, ein Gaststudium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien in der Meisterklasse Anton Lehmden belegen zu können. 1998 erhielt sie den Kunstförderpreis für Malerei der Kulturstiftung Hartwig Piepenbrock und einen weiteren Förderpreis für Malerei. Ihr Werk -und das ist für eine 29jährige ausgesprochen ungewöhnlich- ist, wie schon eingangs bemerkt, stark konturiert und charakteristisch. Dort, wo viele noch suchen, hat sie schon eine persönliche Ausdrucksnote, ja, einen Stil gefunden. Es sind die Heiterkeit und die Leichtigkeit, die diese Bilder so eingängig und so traumhaft schön machen. Malerei und Zeichnung fügt sie mit einem außergewöhnlichen, kontrapunktischen Gespür zueinander. Ihre Themen sind alltäglich und doch allgemein und allumfassend. Transzendenz blitzt auf, und die Tiefschichtigkeit mit ihren durchscheinenden Farbaufträgen vermittelt das Gefühl von Zeit, von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Ihre Titel sind mit poetischem Gefühl gewählt, z.B. „der hohe himmel ist ein dach smaragd“, „kleiderlos gehen“, „Schenk mir im See die Rosen“, „Ach, blüht erst, wenn ich komme!“ oder „Der Tag bestand aus Einzelheiten“. Einige dieser Bilder sind zu Lyrik von H.C. Artmann entstanden. Dem Betrachter werden durch die Titelvergabe assoziative Zugänge angeboten. In gewissem Sinne gestaltet Julia Siegmund mythologisch. Das Bild, das Blatt Papier, die Leinwand sind immer Träger der Komposition im Konkreten, aber auch im abstrakten Sinne. Zartheit zeichnet den Strich ihrer Radierungen aus und man kann ihre Bilder wie Piktogramme lesen. Sie rühren an das Innerste und sind doch offen für Assoziationen. Der Betrachter wird nicht eingeengt oder in eine besondere Richtung gedrängt. Er kann seine Gedankenspaziergänge in ihren Kompositionen machen.
Es ist bezeichnend, dass Julia Siegmund ihre Radierungen nicht als Multiple sondern als Unikate ausführt. Gewachst und auf den Keilrahmen gespannt, wirken sie wie Gemälde. Das Blatt Papier wird zum tastbaren Gegenstand und die Radierung eigentlich zum Relief. Die Künstlerin zeichnet und malt zugleich. Ihre piktogrammartigen Figuren wirken wie hingehaucht. Das Blatt scheint zu schweben und eine grüne Werkreihe von aufgespannten Radierungen zum Thema „Pflanze“ hat etwas von der Leichtigkeit des Seins.
Man hat einmal für die Neuen Wilden das Wort „Neoexpressionismus“ oder die Bezeichnung „Neue Heftigkeit“ gewählt. Welches Wort oder welchen Begriff können wir auf die Malerei und Grafik von Julia Siegmund anwenden? Ich bin mir bewusst, dass jede Bezeichnung hier wirklich nur ein Versuch sein kann. Treffend scheint mir die Bezeichnung „lyrische Abstraktion“.
Ihre Affinität zur Literatur ist deutlich, und es ist verlockend, sich ein Buchobjekt von Julia Siegmund in seiner Realisation vorzustellen. Ihr feiner Strich vermag Gedichte und freie Assoziationen zu begleiten und ins Bildkünstlerische zu erweitern.
In Julia Siegmunds Werken liegt eine Geistigkeit, die in ihrer Sensibilität –ich denke, das darf man sagen- außergewöhnlich ist. Inhalt, Form und Farbe fügen sich bei ihr wie selbstverständlich zueinander. Sie malt und zeichnet zugleich. Und alle Arbeiten stehen in einem intensiven Verhältnis zueinander.
Die Ausstellung im Rathaus am Stadtpark ist ein Ereignis, ganz gewiss für Julia Siegmund, aber auch für die Stadt Friesoythe, die hier ihrer Künstlerin das ganze Rathaus geöffnet hat. Der Künstlerin und dem Galeristen Volkmar Grigull ist eine außergewöhnlich schöne Ausstellung gelungen. Die sensiblen Arbeiten werden gewiss einen anderen Akzent in die Verwaltungsarbeit bringen. Kunst findet hier nun mitten im Alltag und im Leben statt.
Jörg Michael Henneberg, Oldenburgische Landschaft, Dezember 2003