Eröffnung der Ausstellung „von hier und da“ – Malerei, Grafik und Installation von Julia Siegmund

Liebe Julia Siegmund, lieber Frank Hanneken, liebe Freundinnen und Freunde der Kunst!

Im Jahr 1960 erschien das Buch „Der Laden des Goldschmieds“, in dem Karol Wojtyla, der später als Papst Johannes Paul II. nicht nur in die Kirchengeschichte eingehen sollte, über das kostbare Geschenk der Liebe und der Ehe meditiert. Protagonisten der szenischen Erzählungen sind die Eheringe im Laden des Goldschmieds, deren symbolische Kraft als Zeichen der Liebe, Treue und Verantwortung Karol Woityla beschwört.Von Trauringen sind wir heute im Kunstkabinett von Frank Hanneken umgeben, aber auch von der Kunst von Julia Siegmund. Und beide haben etwas Gemeinsames: Der Trauring ist ein Symbol, ein sichtbares Zeichen für etwas Unsichtbares.

Und auch Julia Siegmund spricht in ihrer Kunst durch Symbole und lässt so das Unsichtbare wie ein Trauring aufleuchten.

Der Mensch ist das eindeutige Grundthema in der Kunst von Julia Siegmund – der Mensch mit seinen Ängsten, Verletzungen, Sehnsüchten und Träumen. Wir sehen in dieser Ausstellung menschliche Figuren, deren Umrisse mit dem Wissen um menschliche Anatomieund Physiognomie in Szene gesetzt werden. In der Klarheit der Konturierung und derSicherheit der Linienführung spiegelt sich das herausragende zeichnerische Talent der Künstlerin. Doch die Künstlerin beschränkt sich nicht nur auf die Umrisszeichnung und die äußere Hülle ihrer Figuren, wie bei den drei – eigens für diese Ausstellung – geschaffenen Vorzugsgrafiken aufgezeigt werden kann. Eingeblendet in die Konturzeichnungen sind Motive, deren silhouettenhafte Flächigkeit im scharfen Kontrast zu der gezeichneten Linie steht. Neben diesem gestalterischen Spannungselement lassen die eingeblendeten Motive aber auch das unsichtbare Innenleben dieser Menschen ahnen.

So spüre ich einen Ausdruck von Trauer und Melancholie in der Umrisszeichnung einer männlichen Figur. Ihre Augen sind fest geschlossen. Als weiße Schattenrisse sind zwei Vögelmit dieser Umrisszeichnung verwoben, womit eines der Leitmotive der Kunst von Julia Siegmund anklingt. Auch in weiteren Arbeiten dieser Ausstellung können Sie das Vogelmotiv entdecken, dessen symbolische Bedeutung als Sinnbild der Freiheit bekannt ist.

Und wenn Julia Siegmund eine Werkgruppe mit „Schenk mir keinen Vogel“ betitelt, wird deutlich: Einen Vogel kann man nicht verschenken – und wenn, dann nur mit Hilfe eines Käfigs, der die Symbolik des Vogels als Sinnbild der Freiheit ad absurdum führen würde: Also: „Schenk mir keinen Vogel“!

Aber der Vogel ist nicht nur Sinnbild der Freiheit und Grenzenlosigkeit, sondern vor allem auch Mittler zwischen Erde und Himmel, Mittler zwischen der sichtbaren Außenwelt und derTranszendenz, mit ihren Merkmalen des Unsichtbaren und Nichtfassbaren. In diesem Sinne greift auch die Symbolik des Bootes, die in zwei großformatigen Arbeiten (im Nebenraum) von der Überfahrt von der Alltagswelt in eine Anderswelt künden. Die auf einer Bootsfahrt erlebten und gesehenen Motive werden in der künstlerischen Interpretation zum Bedeutungsträger. Offenheit strahlt in der mittleren Arbeit das Antlitz einer Frau aus, wobei sich in das Gesicht wie ein Schatten der Kopf einer weiteren Figur eingenistet hat:Doppelgesicht.

Der Blick der menschlichen Figur in dem rechten Linoldruck ist vom Betrachter abgewandtund nach innen gerichtet. Sie ist ganz bei sich. Sie scheint zu träumen – vielleicht zu träumenvon einem Menschen, der sich abwendet und seinen eigenen Weg geht: Frau und Kind.

Immer wieder begegnen wir in der Kunst von Julia Siegmund dem Spannungsfeld von Ruhe und Bewegung, von Kontemplation und Aktion. Die Arbeit „dunkel geneigt“ ist ein Beispiel von vielen.

„Geh langsam“ ist der Titel eines Wandbildes, das in einer raffinierten und komplizierten Technik der Druckgrafik geschaffen wurde. Auch in der Verwendung einer Leinwand als Bildträger dieser Grafik kommt die Experimentierfreude der Künstlerin und ihr Interesse anoriginellen Techniken der artistischen Umsetzung zum Ausdruck. Wie ein auf die Wand gemaltes Fresko erscheint die Figur eines jungen Mannes, der mit zögernden und tastenden Schritten seinen Weg, seinen Lebensweg sucht. Der Kopf ist zum Boden gesenkt. Durch den neutralen Hintergrund und den Verzicht auf einen architektonischen oder landschaftlichen Umraum beeindruckt diese Interpretation eines Suchenden in ihrer unmittelbaren und lebendigen Präsenz. Der gezeigte Mensch wird in unsere Versammlung der Ausstellungseröffnung miteinbezogen. Neben der Orts- und Zeitlosigkeit und neben der durch Kleidung und Physiognomie erzielten Anonymität ist bei der gezeigten Figur auch ihre Barfüßigkeit auffällig, von der nicht nur emeritierte Lateinlehrer wissen: Barfüßigkeit ist in der Antike ein Attribut der Götter.

„Die Götter sind barfuß“ ist explizit auch der Titel einer Werkreihe dieser Ausstellung. Immer wieder begegnen wir bei unseren Erkundungen den nackten Füßen, die ein interkulturelles Symbol der Demut, der Reinheit und Unsterblichkeit sind. Denn Schuhe sind aus Leder von toten Tieren gefertigt. Nur der vom Tod nicht Berührte darf einen heiligen Ort betreten. „Ziehe deine Schuhe aus, denn hier ist heiliger Boden“ spricht Jahwe in Gestalt des brennenden Dornbusches zu Moses.

Ein gestalterisches Prinzip der Kunst von Julia Siegmund ist das Anschneiden ihrer Bildmotive. Fast immer wird nur ein Ausschnitt gezeigt, der die schöpferische Phantasie des Betrachters anregt. Wir werden eingeladen, Fehlendes zu ergänzen und vor allem eigene Alltags-, Abenteuer- oder Sinngeschichten zu erfinden. Das macht die Sache interessant und spannend.

Ein weiteres Spannungselement ist das Verweben und Schichten verschiedener Raumzonen und die Verwendung ganz unterschiedlicher Techniken des Farbauftrags. So antwortet – wie bei diesem Beispiel (“falls Du dich erinnerst“) – auf das perspektivisch angelegte und damit raumschaffende Rastersystem ein pastos gemaltes Farbfeld in seiner betonten Flächigkeit. Die Leuchtkraft des Orange wird durch den Komplementärkontrast mit dem Blau der Jeanshose noch gesteigert. Weitere kontrastierende Gestaltungsmittel sind die direkt aus der Tube mit Leuchtfarbe gezeichneten Konturen der Vogelmotive sowie die mit einer Spraydose aufgetragenen Schriftzeichen. Auch deren Einsatz zählt zu den künstlerischen Prinzipien von Julia Siegmund, wobei die Schriftzeichen häufig spiegelverkehrt in Szene gesetzt werden. Sie sind nicht oder kaum entzifferbar und zu einer ornamentalen Textur verwoben.

Als Zitate aus der Poesie von Dichtern wie Peter Handke oder H.C. Artmann können diese Schriftzüge identifiziert werden, Textstellen, die die Künstlerin berührt haben und Impulsgeber und Inspirationsquelle für Julias Bilderwelt sind. Es ist der Klangleib der Worte, dem Julia Siegmund in ihren Werken nachspürt. Manchmal erscheinen die Buchstaben wie bannende Zeichen.

Eine Aura des Rätselhaften, Märchenhaften und Surrealen prägt also das künstlerische Schaffen von Julia Siegmund. Wir sind umgeben von Traumbildern, von gemalter und gezeichneter Poesie. In der Kombinatorik des Unwahrscheinlichen wird nie eine sichtbare Welt geschildert, sondern eine Welt des Unsichtbaren geschaut. Die Arbeiten beeindrucken in ihrer ästhetischen Kraft, in ihrer gedanklichen Tiefe und ihrer so vielfältigen und auch widersprüchlichen Deutbarkeit. Dazu mögen die manchmal kryptischen und von der Literatur inspirierten Titel beitragen, wobei sie selbst ihre Bilderfindungen mit eigenen verdichteten Worterfindungen kombiniert.

„Ich will mir ein Kleid aus dem Glanz der guten Tagen schneiden“ lautet der Titel einer Arbeit, die Julia Siegmund nach der Vorlage ihrer Handschrift als Leuchtschrift hat anfertigen lassen. „Glanz der guten Tage“ – eine Botschaft, die in ihrer Aktualität berührt. Denn das Kunstwerk ist ein eindrückliches Zeichen der Sehnsucht und der Hoffnung nachLicht in diesen nicht nur meteorlogisch düsteren Tagen.

Und natürlich denken wir mit diesem Titel und an diesem Ort an das Geheimnis und Geschenk der Liebe. Davon künden die Trauringe „im Laden des Goldschmieds“.