Die Wirklichkeit poetisch verzaubern
Grafschafter Nachrichten, 26.09.2017
Bis zum 08. Oktober stellt Julia Siegmund im Kunstverein Grafschaft Bentheim in Neuenhaus aus. Fünf Wochen hat die Künstlerin hier intensiv gearbeitet. Entstanden sind einnehmende Werke voller Heiterkeit und Melancholie, Sehnsucht und Zerbrechlichkeit. In konzentriertem künstlerischen Prozess fertigte Julia Siegmund im „Atelier auf Zeit“ ein Dutzend Arbeiten, darunter Tiefdruck auf Leinwand und Bütten, Monotypien, großflächige Wandmalereien und Wandstempelungen. Die 43-Jährige war jeden Werktag bis zu zehn Stunden in den Räumen des Kunstvereins. „Kaum jemand hat die Zeit so intensiv genutzt wie Julia Siegmund“, sagte die künstlerische Leiterin Gudrun Thiessen-Schneider bei der Eröffnung der Ausstellung am Sonntag. Seit 1995 bietet der Kunstverein Grafschaft Bentheim hier jedes Jahr einen Experimentierraum für im Landkreis geborene oder hier arbeitende Künstlerinnen und Künstler mit Akademieabschluss.
Die Installation „Selbsterfahrung“ lässt Besucher selbst aktiv werden. Sie stehen vor einer Tür mit dem Hinweis: „Wenn es Ihnen jetzt gelingt, diese Tür zu öffnen und hindurch zu gehen, werden Sie sich verändern.“ Durch einen ausgeklügelten Mechanismus verriegelt sich die Tür aber immer wieder selbstständig. So ist nicht sicher, ob man gerade jetzt hindurch kommt – oder nicht. „Das zeigt, wie machtlos wir sind, wie abhängig vom Zufall. Der Mensch ist Zeit seines Lebens damit konfrontiert, dass nichts für immer so bleibt, wie es ist“, erläutert Julia Siegmund.
Sie wurde 1974 in Friesoythe geboren und arbeitet in den Bereichen Druckgrafik, Malerei und Installation. Julia Siegmund studierte Germanistik und Kunst in Osnabrück und Wien und lebte dann zehn Jahre in Münster. 2010 zog sie mit ihrer Familie nach Nordhorn. Ihr Schaffen wurde vielfach ausgezeichnet, 2016 kaufte die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages ein 24 Teile umfassendes Werk von ihr.
Mit jedem Schritt eröffnen sich Besuchern neue Perspektiven, die die Künstlerin in ihren Arbeiten aufgreift. Julia Siegmund nutzt die Flächen des 400 Quadratmeter großen Innenraums und ermöglicht Weite beim Betrachten. Vielfältige zarte Linien an den Wänden führen den Blick. „Fadenspiele“ nennt die Künstlerin eine der Arbeiten. Nicht nur Fäden, sondern auch Figuren und Motive tauchen immer wieder auf und verweben die einzelnen Arbeiten zu einem Ganzen.
Das Hauptwerk trägt den Namen „So lange ich dauern werde“. Dieser Titel weist auf ein Thema, das in vielen Arbeiten Siegmunds zu finden ist: Vergänglichkeit, Memento mori. Die Installation nimmt die komplette, etwa 13 Meter breite Rückwand des Kunstvereins ein. Überlebensgroße Männerfiguren, entstanden durch sehr aufwändigen, ausgefeilten und ungewöhnlichen Tiefdruck auf Leinwand („meine Spezialtechnik“), kleben an der Wand und sind durch Malerei und zahllose Stempelabdrücke auf der Fläche verbunden.
Einer der Männer bewegt die Hand, als sei er grade durch die Tür der Installation nebenan gekommen, der andere sitzt auf einer fragilen Papierfaltung, die oben ins Nichts zu führen scheint. Scheue Protagonisten, die keinen Blickkontakt aufnehmen. Vor allem durch die poetischen Titel schwingt stets ein Gefühl der Unsicherheit mit, der Ungewissheit, was wird. Und so zeigen die Arbeiten Heiterkeit und Melancholie, Sehnsucht und Zerbrechlichkeit.
„Ich will mir ein Kleid aus dem Glanz der guten Tage schneiden“: In kühl-türkisfarbenen Lettern, die Julia Siegmund nach ihrer Handschrift hat fertigen lassen, leuchtet den Besuchern diese Zeile am Eingang entgegen. Sie bezieht sich auf das Märchen „Allerleirauh“ und scheint zu sagen: Anders als im Märchen haben wir heute keine zauberischen Gegenstände, die uns helfen und trösten. Aber wir haben das, was wir erlebt haben, unsere Erinnerungen. Immerhin. Julia Siegmunds Arbeiten sind sensible Kompositionen von großer Spannung, aber auch von poetischer Verzauberung. Ihre Kunst findet immer wieder einen Bezug zum Alltag des Betrachters. Mit großer künstlerischer Energie präsentierte sie am Sonntag ihre Arbeiten dem zahlreich erschienenen Publikum. Julia Siegmund zeigt in dieser inspirierenden Ausstellung, wie sie die Menschen wahrnimmt – und öffnet diesen damit einen Weg, sich dazu selbst zu erforschen.