Alles ist da, und nichts ist zu greifen
Schöne Farben, hintergründige Themen – eine Ausstellung von Julia Siegmund in der Werkstattgalerie Uekermann

„Aber sobald der kranke Kranich wieder gesund ist, werden wir heiraten.“ Das hat Julia Siegmund in eines ihrer kleinen Bilder hineingeschrieben, die in der Werkstattgalerie Uekermann ein Tableau der Poesie und Rätselhaftigkeit entfalten. Das Gefühl von Niedlichkeit, das sich beim ersten Blick noch einstellt, ist mit dem zweiten Blick bereits der Einsicht gewichen, dass die vagen Körperschemen, detailgetreu gezeichneten Ratten, kindlich anmutenden Figuren und diffusen Spuren voller Fallen und Abgründe sind.
Das Bild mit dem Titel „Nach oben schweben“ lässt unweigerlich an den möglichen tiefen Fall denken. Auch die blaue Weite des Schlafs, in den hinein „der Abend mit Himbeerfingern seinen Vers schrieb“, ruft in seiner ganzen Sehnsüchtigkeit sogleich das Gegenbild eines zähen und engen Alltags hervor. Nichts anderes verbindet sich mit der Fantasie einer niedlich-bilderbuchartig dargestellten Frau, die lächelnd in einer Badewanne liegt, während um sie herum Wassertropfen und Farbtupfer für einen heiteren Tanz sorgen.
Wieder einmal zeigt sich: die Schwingung einiger leichter, gewöhnlich bunt genannter Farbtöne besetzt unsere Wahrnehmung in Kunstausstellungen bei weitem schneller als die zumeist verhaltenen Farben des schweren, nachdenklichen Lebens. Doch spätestens das Bild der Raupe, die sich blind und suchend in der offenen Fläche windet, macht offensichtlich, dass das Leben eine eher schwierige Angelegenheit ist.
Es gibt viele dunkle Zonen und diffuse Prozesse, was besonders einige in braunen Tönen gehaltene Malereien zum Ausdruck bringen. Wie im Traumgeschehen undurchsichtige Dickichte und erstaunlich klare Geschehnisse einander durchdringen, bringt Julia Siegmund (Jahrgang 1974) in ihrer Kunst beide Seiten in immer wieder anderer Gewichtung zum Schwingen. Der unberechenbare Sumpf, in dem die Dinge nur schwer voneinander zu trennen sind, und der Wunsch, in die Weite des offenen blauen Himmels hineinzugehen, gehören untrennbar zusammen.
So lernen wir in Siegmunds Bildern einiges über die Gestalt unserer Welt und unseres Erlebens. Alles ist da, und nichts ist zu greifen. Ständig verändern die Phänomene ihr Aussehen. Die wenigen Elemente, die sich deutlich hervorheben, sind tatsächlich nur ein kleiner Teil angesichts dessen, was sich alles entzieht. Allerdings ist es der Teil, an dem wir uns festhalten, an den wir unsere Geschichten anknüpfen, und den wir unaufhörlich mit Sinn belegen. Dass Julia Siegmund immer wieder Wörter in ihre Kompositionen einbaut, erinnert uns an die zentrale Rolle der Sprache in diesem Geschehen. Vorgestaltliche Wirklichkeit, Gestaltfindung und Gestaltbrechung, das erschreckend berauschende Nichts und die Sinngebung des Sinnlosen halten in einem unauflösbaren Wechselspiel die Welt und unser Leben in Gang.
So sind Julia Siegmunds Bilder eben nicht nur schön, poetisch und originell, sondern Anlässe, sich über dieses grundlegende Geheimnis Gedanken zu machen, dem wir ansonsten vor allem nachts in unseren Träumen ganz nahe sind.

Jürgen Kisters
Kölner Stadtanzeiger 10.08.2006, Kultur