Der Hase springt aus dem Gedicht
Julia Siegmund in Greven
Hase, Dachs und Hirsch sind die Hauptdarsteller in der Malerei der jungen Künstlerin Julia Siegmund aus Münster. Die Nebendarsteller: Buchstaben und Worte.
Sie stammen aus der Lyrik des wohl bedeutendsten österreichischen Lyrikers, H.C. Artmann (1921-2000). Mit beiden Motivgruppen lebt sich Julia Siegmund im Turm des Kunstvereins Greven so richtig aus: Für die Ausstellung „hirschgehege & leuchtturm“ bemalte sie Wände, Fenster und Türen mit Artmanns Texten. „Man hat nicht immer die Möglichkeit, dass man derart frei arbeiten, Wände und Scheiben miteinbeziehen darf. Dieser Kunstverein ist eine Perle“, lobt sie die Veranstalter, die sich seit der Gründung des Kunstvereins vor 21 Jahren besonders um die Förderung junger Künstler bemühen.
Fällt Sonnenlicht durch die Fenster, entstehen reizvolle Lichtreflexe auf Wänden und Böden. Die Buchstaben haben einen ähnlichen Effekt wie ein Spitzenvorhang. Um die Lesbarkeit des Textes geht es nicht mehr, er wird zu einem Ornament, Natur und Wörter verschmelzen miteinander. [Einzelne Gedichtzeilen], die Siegmund zu Titeln ihrer Werke umfunktioniert, lassen die Sprache des Dichters erahnen: „Du bist meine Schwester, du hast meine Augen, abends“, heißt es da. Und: „Der Wald kommt dir entgegen“.
Die 35-jährige Künstlerin hat eine perfekte Darstellungsform für die schöne und sehr naturnahe Lyrik von Artmann gefunden. Jedes Mal, wenn sie die Texte lese, entstünden dazu sofort Bilder in ihrem Kopf, sagt sie. Diese Bilder sind beileibe keine einfachen Illustrationen der Gedichte, sie sind abstrakt und leben von Andeutungen. Tiere und Menschen erscheinen in Umrissen oder sind in altmeisterlicher Art detailreich gezeichnet. Ein Hase springt aus den Zeilen. Komplette Geschichten erzählt Siegmund in ihren Bildern, die sie gern zu Serien zusammenfügt. Die Verknüpfungen bleiben der Fantasie des Betrachters überlassen.
In jedem Stockwerk des Turms begegnet dem Besucher ein Wandbild. Unten ist es eine Person, welche die real vorhandene Treppe begeht und damit zum Mitgehen animiert. Im zweiten Geschoss ist es ein Hirsch, ganz oben steht eine junge Frau neben einem Bücherstapel und schaut in die Ferne.
Bei dieser Kunst und diesem Talent ist die Zukunft sicher.
Elvira Meisel-Kemper
Münstersche Zeitung, Kultur, 07. Mai 2009